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02.09.2003 |
Stromlos in Manhattan |
Das FBI ermittelt, der Kongress tagt,
Händler wittern ihre Chance. Und New York blickt verwundert zurück
auf den dunkelsten Tag zwischen Furcht und friedlichem Nichtstun -
ein seltenes Lebensgefühl: Manhattan unplugged. Ein Bericht über den
14. August 2003 in New York. Von Viola Keeve, freie Autorin in Köln
und New York. |
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Von Viola Keeve
Ein
Flackern, ein Surren im Supermarkt, dann wird es dunkel. Um 16.11
Uhr am 14. August geht in New York von einer Minute zur anderen
nichts mehr. In der Stadt, die niemals schläft, niemals innehält,
ist der Schalter umgelegt - ein Blackout, der alles zum Erliegen
bringt: Tunnel und Brücken sind gesperrt, U-Bahnen stecken fest,
Geschäfte schließen. Alle laufen in verschiedene Richtungen, Mensch
an Mensch, ameisengleich, ziellos erst. Ein älterer Japaner pustet
vor sich hin, geht Schritt für Schritt, in stiller Panik. Die
letzten Wasserflaschen werden verkauft. Eine ältere Frau hortet
Eiskrem, kühlt ihr Gesicht. Es ist der heißeste Tag in New York seit
langem, unerträglich feucht, kein Windzug. Die Sonne
brennt.
In nur drei Minuten sind 21 Kraftwerke im
Nordosten der USA und Kanada ausgefallen, das Begreifen des
Stillstands dauert länger, Stunden, Tage, Wochen später noch dreht
sich jedes Gespräch um den größten Stromausfall in der
amerikanischen Geschichte. Pro Stunde hat New York am "Black
Thursday" 36 Millionen Dollar verloren - und ist um eine neue
Katastrophe, einen Mythos reicher. Am Times Square verkaufen Händler
inzwischen Fünf-Dollar-T-Shirts mit dem Aufdruck "I survived
historical blackout 2003" oder "No power? No problem. Cruise on!".
Im Internet florieren Blackout-Tassen, Baseballkappen, Babylätzchen,
Unterhosen, sogar Verhaltenstipps, wie man sich für den nächsten
Notfall anzieht oder das Badezimmer ohne Wasser nutzt. "Wir hatten
einen Laptop und haben sofort losgelegt", sagt Jonathan Cornish aus
Toronto. Der 25-jährige bietet auf www.blackedout2003.com Shirts wie
"New York, the lightweight city" oder "Did buffalo pay their bills?"
an. 500 allein hat er in den letzten 36 Stunden
verkauft.
Zugleich beginnt das große
Aufräumen, die Suche nach den Schuldigen. Die Anwaltskanzlei Cauley
& Rudman hat inzwischen eine Sammelklage gegen den Stromkonzern
FirstEnergy eingereicht, stellvertretend für jeden, der geschädigt
worden ist. Der Blackout aber schafft es nicht mal in die
Schadenstatistik der 20 größten Versicherungsfälle der Vereinigten
Staaten, hat die Wirtschaft nur mit rund sechs Milliarden Dollar
belastet. Die Terrorschäden vom 11. September haben rund 20
Milliarden Dollar gekostet. Dennoch: Amerika muss seine
Energieversorgung sanieren, Europas Stromkonzerne hoffen nach der
Strom-Schlappe der USA jetzt auf Riesenaufträge. Siemens und das
schweizerisch-schwedische Unternehmen ABB sind in der Sparte
Energietechnik weltweit die größten Dienstleister. Weil sich General
Electric vor allem auf den Bau und Vertrieb von Generatoren
konzentriert, haben beide Konzerne gute Chancen, bei der Aufrüstung
der Verteilernetze mitzuverdienen.
Präsident Bush hat
den Blackout als "Weckruf" bezeichnet, eine einmalige Chance, sein
immer wieder verschobenes Energiepaket endlich durchzusetzen. Zuerst
aber müssen Strom-Detektive die Fehlerquelle finden. FirstEnergy in
Ohio hat bei heißem Wetter und hoher Luftfeutigkeit schon vor
weiteren möglichen Blackouts gewarnt. Die Energiebehörde muss
zeigen, dass sie handelt, hat eine schnelle Untersuchung
versprochen. Eine genaue Analyse, wie es zu dem großflächigen
Kollaps kommen konnte, der 50 Millionen von Detroit bis New York ins
Dunkel schickte. Mehr als hundert Experten des FBI, der nationalen
Labore und Organisationen für Energieversorgung ermitteln. Denn:
"Die elektronische Stromversorgungs-Schaltstelle ist sehr
wahrscheinlich unser vitalstes Stück Infrastruktur", sagte
US-Energieminister Spencer Abraham. Die Untersuchung werde die
Stromindustrie nicht schützen, versprach er, aber auch keine
voreiligen Schlüsse ziehen.
Lesen Sie im zweiten
Teil, wie die New Yorker ihre Gelassenheit
zurückgewannen.
Drei fehlerhafte
Hochspannungsleitungen im US-Staat Ohio haben den Blackout
wahrscheinlich verursacht. "Wir sind ziemlich sicher, dass das
Problem in Ohio begonnen hat", sagte Michehl Gent, der Leiter des
North American Electric Reliability Council (NERC). Jetzt müsse
geklärt werden, weshalb die Lage nicht unter Kontrolle gebracht
worden sei. Ingenieure und Computerexperten stehen vor einer
Sisyphus-Aufgabe: Sie sollen den gigantischen Berg von Daten aus den
Kraftwerken analysieren und eine möglichst sekundengenaue Chronik
der Ereignisse erstellen. Sie setzen dabei auf Ermittlungstechniken,
die auch nach Flugzeugabstürzen benutzt werden. "Wir werden uns jede
Sekunde ansehen, um festzustellen, wie diese Schockwelle über uns
hereinbrach und warum wir sie nicht stoppen konnten", sagt Stephen
Allen, der Sprecher des Northeast Power Coordinating Council.
"Innerhalb von sieben bis zehn Tagen wird uns eine sehr genaue
Chronik vorliegen, fast Sekunde für Sekunde." Aufzeichnungen der
Stimmenrekorder in den Kontrollräumen sollen den Ermittlern Hinweise
auf mögliche Fehler der Mitarbeiter liefern.
Die
Finsternis, die Ohnmacht der Supermacht, darf sich nicht
wiederholen. Denn in den ersten 40 Minuten war die Situation in
Manhattan keineswegs unter Kontrolle. "Wer jetzt einen Herzinfarkt
bekommt, hat Pech gehabt", sagt Conor OBrian. Der 34-jährige
Computerspezialist aus Brooklyn hat ein Auto gemietet auf der 96.
Straß, will in sein Wochenendhaus in den Bergen, den Catskills. "Das
sieht nicht gut aus, gar nicht gut", murmelt er. In der
Autovermietung nimmt niemand ab. Telefone, Handys funktionieren
nicht mehr, Hubschrauber und Aufklärungsflugzeuge kreisen über den
Hochhäusern. Es gibt nur noch einen Weg von und nach Manhattan: die
Fähre. Ein Obdachloser in Shorts sitzt auf der Stufen eines Hauses,
dreht eine Zigarette und ruft dem 34-Jährigen zu: "Und was macht ein
Obdachloser bei einem Blackout? Das Gleiche wie ihr - nur er dreht
sich einen Joint."
Viele sitzen wie
er vor ihren Häusern, um nicht allein zu sein, stehen um Autos
herum, aus denen Nachrichtenfetzen dringen: "Rauch kommt aus einem
Gebäude, das Stromnetz ist zusammengebrochen." Jeder denkt an den
11. September. Das Trauma, die Verwundung sitzt tief, der Wille, ihr
zu trotzen, auch. Von der großen Gelassenheit, der
Nachbarschaftswärme, der aufgetauten Stadt, dem Partyrausch eines
frühen Feierabends kann anfangs keine Rede sein. Zu Beginn herrscht
Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit.
Es ist nicht der
erste große Stromausfall in New York, keine Überraschung seit dem
Blackout von 1977. Und es gab genug Warnzeichen für ein marodes
Stromnetz: Erst vor kurzem belegte eine Studie, dass der rapide
Anstieg des Strombedarfs seit 2000 den Stromfluss im Nordosten
Amerikas destabilisieren, wenn nicht gar lahm legen könnte. "Wenn es
Abweichungen von der idealen Frequenz, von 60 Hertz, gibt, bedeutet
das, jemand zapft zuviel ab oder nicht genug", erklärt der Verfasser
der Studie, Energieberater Robert Blohm. Wenn die Frequenz in den
Stromleitungen zu sehr streue, schalteten sich Stromnetze
automatisch ab, aus Sicherheitsgründen - wie in New York am "Tag,
als die Lichter erloschen" (Newsweek), der immerhin glimpflich
endete. Nur 60 Brände gab es, durch Kerzen ausgelöst, erklärte
Bürgermeister Bloomberg, einen Toten, einen verletzten
Feuerwehrmann, einen kranken Polizist, aber keine Plündungen wie
1977. "Jeder war abends einfach auf der Straße, da war einfach ein
Gefühl von Sicherheit", sagt Alex, ein 27-jähriger Student aus
Cobble Hill - nach dem ersten Schrecken.
Lesen Sie im
dritten Teil, wie "Manhattan unplugged" ein neues Lebensgefühl
geworden ist.
Denn zuerst war New York nicht
mehr das wohlorganisierte Zentrum der Ruhelosigkeit, in dem alles
fließt, in Bewegung ist, das jeden selbstverständlich aufnimmt, der
den Strom nicht stört, sondern eine gelähmte Stadt. Passanten rufen
sich zu, was sie gehört haben: überhitzte Drähte, Dominoeffekt, in
ganz New York State, Detroit, Cleveland, Ohio, New Jersey, Kanada.
Hunderte warten auf die Manhattan Ferry an der 34. Straße. Nur wer
ein Ticket hat, darf an Bord, dröhnt aus dem Lautsprecher. Nicht
stehen bleiben, gegen den Strom laufen, nach Westen, überlegt sich
der 34-jährige OBrian aus Brooklyn. Das funktioniert. Drei Stunden
wird er an diesem Tag laufen, ohne Pause, über hundert Blocks, bis
er sein Auto bekommt.
Energieberater haben immer
wieder gemahnt: Es sei nicht die Frage, dass es passiert, sondern
nur wann und in welchem Ausmaß. Jetzt plant Bush für September eine
Anhörung im Repräsentantenhaus und will eine Kommission einsetzen,
die sein geplantes neues Energie-Gesetz um wichtige Passagen
erweitert. Danach sollen Stromkonzerne stärker in die Pflicht
genommen werden. Wenn ihre Netze nicht verlässlich arbeiten, drohen
drakonische Strafen. Problematisch ist, dass die verschiedenen
Bundesstaaten seit Jahren zerstritten sind, welche Art der
Energieversorgung notwendig ist. Die südlichen und westlichen
Staaten etwa wollen ihren billigen Strom nicht dem stromhungrigen
Nordosten überlassen. "Wir haben kein Interesse, unseren billigen
Strom in andere Bundesstaaten zu exportieren", stellte Senator Larry
E. Craig, ein Republikaner aus Idaho klar. "Es ist einer unserer
Vorteile, an dem wir so lange gearbeitet haben." Doch George Bush
macht Druck, solch eine verwundbare Infrastruktur kann sich Amerika
nicht leisten. Energieminister Spencer Abraham hat schon höhere
Strompreise angekündigt - eine der Hauptfolgen des Blackouts. Die
Modernisierung werde mindestens 50 Milliarden Dollar
kosten.
New York kam mit einem blauen
Auge davon. Ein bis zwei Stunden nach dem Stromausfall findet die
Stadt wieder zu sich. Viele sitzen in Cafes und Bars, trinken Wein,
einige joggen, andere laufen mit Videokameras umher. Restaurants
schenken Eiswasser aus, umsonst. "Ich werde in diesem Laden essen,
eines Tages", sagt Conor OBrian. "Bei einer Tragödie stehen die New
Yorker sofort zusammen", erklärt eine Frau in einem Klappstuhl am
Straßenrand, die in Pappbechern aus einem Plastikkanister Wasser
ausschenkt. Ein Bus, bis an die Frontscheibe gefüllt mit
chassidischen Juden, rollt über die Amsterdam Avenue, der Verkehr
fließt wieder, langsam. Einige laufen auf dem Highway, über die
Brücken nach New Jersey, andere sitzen zu zehnt hinten auf einem
Pickup. Eine Bäckerei in Brooklyn verschenkt Brot, Restaurants
Fisch, Fleisch, alles, was verdirbt.
Williamsburger
feiern spontane Blackout-Parties, rösten das Fleisch über Kohlen,
wie ihre Vorfahren, trinken warmes Bier, trommeln und tanzen.
Hunderte bestaunen die dunkle Stadt am anderen Ufer. "Nur die
Hippies fehlen. Da passt doch Simon & Garfunkles Silence in
the sun. Hello darkness, my old friend...", sagt Adrian, ein
Fotograf aus Manchester. "Wo sind die denn, wenn man sie braucht?"
Er hat Glück gehabt, hat in keinem Lift, keiner Subway festgesteckt,
wurde von einem Autofahrer nach Brooklyn mitgenommen, hat im
Hispanoviertel von Williamsburg mit einer älteren Lateinamerikanerin
Champagner betrunken und auf dem Weg zum Hafen, von dem die Skyline
zu sehen ist, einen Vakuumcleaner gefunden, zur Freude anderer
Schaulustigen. "Hey, Manhattan unplugged", ruft einer aus der Menge,
ein neues Lebensgefühl - zumindest für eine Nacht. George Bushs
lobende Rede zur Lage der Nation zum "großartigen Charakter
Amerikas" konnten die New Yorker erst am nächsten Abend empfangen,
am Tag, als der Strom zurückkam.
Viola Keeve (36)
arbeitet als freie Autorin in Köln und New
York.
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Verantwortlich für die News ist das
strom-magazin |
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